23.10.2014

Anstoß 43/2014

Aus Liebe, nicht aus Furcht

Mein Großvater hatte eine außergewöhnliche Bibel. Jedenfalls hatten meine Schwestern und ich das als Kinder so empfunden. Sie war nämlich von besonderer Größe. Wenn man in ihr blättern und lesen wollte, musste der Küchentisch freigeräumt werden, so groß war sie.

Auf jeder Seite gab es ein beeindruckendes Bild, zum Teil auch schaurig und sehr respekteinflößend, etwa die Darstellung der Sintflut mit zahlreichen ertrinkenden Menschen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben war. Sehr eindrucksvoll war auch das Bild zu dem Gleichnis vom reichen Mann, vor dessen Haustür ein armer Mann namens Lazarus lag. Der Reiche lebte herrlich und in Freuden, während Lazarus an Geschwüren und an Hunger litt. Er hätte, so erzählt es Jesus seinen Zuhörern, gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Im Gegensatz zu Lazarus erleidet er qualvolle Schmerzen und erkennt – jedoch zu spät – was er hätte zu Lebzeiten anders machen müssen. Der Reiche bittet Abraham, jemanden zu seinen Verwandten zu schicken, um sie zu warnen. Sie sollen es besser machen als er, aber Abraham lehnt ab. Mit der Begründung, dass sie die Kenntnis davon haben, was zu tun ist; sie müssen sie nur in die Tat umsetzen.
Ich muss zur Zeit sehr intensiv an dieses Gleichnis denken. Vielleicht, weil die steigenden Flüchtlingszahlen gerade so aktuell sind. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht über die Medien sehr detailliert über die Armen vor unserer sprichwörtlichen  Haustür informiert werden. Zum Glück gibt es inzwischen auch genügend Informationen darüber, was wir dazu beitragen können, dass sich die Situation in den ärmsten Ländern unserer Welt ändert. Lassen wir das Argument vom „Tropfen auf den heißen Stein“ nicht gelten! Verstecken wir uns nicht hinter der Darlegung komplexer Zusammenhänge, gegen die wir scheinbar machtlos sind! Überprüfen wir, mit dem Wissen, das wir heute haben, ehrlich und selbstkritisch, wo unser Lebensstil auf Kosten anderer (Kontinente) geht. Das Evangelium vom heutigen Sonntag begründet kurz und bündig, warum wir das tun sollen.  Weil es das Wichtigste ist, Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele zu lieben und – nicht weniger wichtig – seinen Nächsten wie sich selbst.

Von Andrea Wilke, Erfurt