08.12.2022
Öffentliche Gemeindeveranstaltung eines Missbrauchsopfers
„Antreten statt austreten!“
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Bilder tilgen oder eine neue Perspektive hinzufügen? Gemeinden, in denen Missbrauchstäter aktiv waren, suchen nach Wegen zur Aufarbeitung. Foto: Adobestock |
Erst als gestandener, beruflich erfolgreicher Familienvater konnte sich Gerd Mai (Name geändert) wieder erinnern. Die Geschehnisse seiner frühen Jugend hatten ihn damals so entsetzt, dass er sie vergaß. Es dauerte weitere Jahre, bis er sich – einem im Tag des Herrn veröffentlichten Aufruf folgend – traute, den erlittenen Missbrauch der Bistumsleitung kundzutun. Und es vergingen noch einmal rund drei Jahre, bis er den für ihn schwersten Schritt in Angriff nahm, seine eigene Gemeinde aufzuklären.
Die Sorge, seine Selbstoffenbarung könnte zu einer Spaltung in der Gemeinde führen, bremste Gerd Mai. Doch zugleich drängte es ihn, sich zu engagieren, „weil ich nicht will, das sowas wieder passiert“, sagte er den Gemeindemitgliedern, die am 29. November in den Riesaer Gemeinderaum gekommen waren. Er bringe das Thema nicht an die Öffentlichkeit, um der Kirche Schaden zuzufügen, machte er deutlich. Ein Wort von Professor Hans Küng habe er sich zu eigen gemacht: „Antreten statt austreten.“ Er wolle dazu beitragen, dass die Kirche seine Heimat bleibe, dass sie wieder überlebensfähig werde.
Längere Zeit habe er vergeblich darauf gewartet, dass die Bistumsleitung die Riesaer Gemeinde auf die Taten ihres ehemaligen Diakons Erich G. aufmerksam macht, der an seinen folgenden Wirkungsstätten als Priester bekanntlich weitere Jungen missbrauchte. Da er das Anliegen für dringlich halte, habe er nun selbst die Initiative ergriffen und den Riesaer Ortskirchenrat gebeten, zu der Gemeindeveranstaltung einzuladen.
Es braucht sichtbare Steine des Anstoßes
Thomas Haberland nutzte die Gelegenheit, den Anwesenden das neue Präventionskonzept der Pfarrei zum Schutz vor sexualisierter Gewalt vorzustellen, das er federführend mit erstellt hat. „Aufarbeitung und Prävention müssen gleichzeitig passieren, damit wir nicht die Zeit verpassen“, zeigte sich Gerd Mai überzeugt.
Pläne, wie es mit der Aufarbeitung in Riesa vorangehen könnte, gibt es indes bisher noch nicht. Unter den Gästen des Gemeindeabends waren einige von Missbrauch Betroffene aus anderen Gemeinden. „Ich finde es wichtig, dass die Erinnerung durch Gedenkveranstaltungen wachgehalten wird“, sagte nach der Veranstaltung Christina Meinel aus Heidenau, in der es vor gut einem Jahr einen ähnlichen Gemeindeabend gegeben hatte. Dass der Grabstein des dortigen Täters Herbert J. inzwischen restlos entfernt wurde, sieht Christina Meinel kritisch: „Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens ein Teil des Steins zur Gestaltung eines dauerhaften Erinnerungsortes erhalten worden wäre“.
Michael Köst, Sprecher des Betroffenenbeirats Region Ost, pflichtet ihr bei: „Wenn wir alle Spuren der Täter tilgen als hätte es sie nie gegeben, tilgen wir auch die Erinnerung an das Leid der Betroffenen und entfernen den Anlass, sich damit auseinanderzusetzen.“
Ein Bild oder Gedenkstein könne Ehrenmal sein oder Stein des Anstoßes, er könne für Heldengedenken stehen oder für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sagt Köst, der in Hainichen wohnt, einem der Tatorte von Erich G.
Die Hainichener Gemeinde etwa habe die Bilder aus dem Gemeindeleben an einer Wand im Gemeindehaus hängen lassen. Fotos, auf denen Erich G. zu erkennen ist, wurden nicht entfernt, nachdem seine Taten bekannt wurden. Stattdessen wurde eine Wand hinzugefügt mit Informationen über Missbrauch.
Er wisse von einer österreichischen Gemeinde, die unter der Kreuzwegstation „Jesus wurde seiner Kleider beraubt“ eine Tafel anbrachten, die dem Grabmal des Täters entnommen war. In einer betroffenen Gemeinde in Vorpommern im Erzbistum Berlin dagegen wurde das Foto des Täters aus der Priester-Ehrengalerie entfernt. Über seinem Namen hängt nun statt des Bildes die ihn betreffende Passage aus dem geschwärzten Berliner Missbrauchs-Gutachten.
Von Dorothee Wanzek