20.11.2015
Anstoss 47/2016
Was man so hört
Bahn fahren ist eigentlich eine ganz entspannte Sache. Draußen zieht die Welt an einem vorbei, drinnen ist es warm und man hat Zeit für ein gutes Buch, oder um die Augen zuzumachen. Heute ist es anders. Mein Nachbar empört sich gerade über die Flüchtlinge.
Er kann es nicht mehr hören. Warum machen wir die Grenzen nicht endlich zu? Warum kommen so viele junge Männer? Was passiert, wenn die alle ihre Familien nachholen? Da fühlt man sich ja fremd im eigenen Land …
In einem Punkt gebe ich meinem Nachbarn Recht: Ich kann es langsam nicht mehr hören. Aber ich habe auch nicht die Kraft, mich auf einen Streit einzulassen, den ich wahrscheinlich verlieren werde. Also räume ich das Feld, nehme meine Tasche und schiebe mich in den Gang, um mir einen anderen Platz zu suchen.
Ein paar Tage später greifen Terroristen Paris an. Während alle Nachrichten von den furchtbaren Attentaten berichten, muss ich an den Mann im Zug denken. Ob er jetzt auch vor dem Fernseher sitzt? Was wird er sagen? Die Anschläge werden Wasser auf seine Mühlen sein. Mit jedem Flüchtling wird das Risiko größer, sich den Terror vor die Haustür zu holen.
Ich denke in letzter Zeit immer wieder an die Berichte vom Untergang der Titanic. Man sagt, damals hätten Menschen in halbvollen Rettungsbooten zugeschaut, wie andere im eiskalten Wasser ertrunken sind, weil sie Angst um ihr Leben hatten. Natürlich mache ich mir Sorgen, wenn ich an die Flut der Flüchtlinge denke. Natürlich ärgert es mich, dass Deutschland und Schweden allem Anschein nach die Hauptlast allein tragen müssen. Und wie viele andere habe ich meine Zweifel, ob wir den hohen Anspruch an unseren Umgang mit Flüchtlingen weiter so erfüllen können.
Aber vom warmen Sofa aus zu fordern, dass die jungen Männer, die ihr Heil in der Flucht gesucht haben, lieber kämpfen sollen, finde ich feige und unmenschlich. Man muss blind sein, um zu übersehen, wie groß der Anteil westlicher Politik an dem Trümmerhaufen im Nahen Osten ist. Wer sich darüber besser informieren will, dem kann ich nur das lesenswerte Buch „Wer den Wind sät“ von Michael Lüders empfehlen.
Und die Kosten? Auf diese Diskussion lasse ich mich nicht ein in einem Land, das Milliarden mit dem Krieg verdient.
Manchmal kann ich kaum fassen, was man so hört. Da höre ich doch lieber auf Jesus Christus. Was er sagt, scheint mir weniger verrückt: „Denn ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,31-46) Das tun übrigens mehr Menschen als wir denken und mehr als am Sonntag in die Kirche gehen. Heute hat es an meiner Tür geklingelt. Da war ein junger Mann mit seiner kleinen Tochter: „Ich bin wegen der Flüchtlinge hier. Ich wollte fragen, ob man helfen kann.“
Pfarrer Marko Dutzschke, Cottbus