14.08.2014

Anstoß 33/2014

Kreativ statt depressiv

Kürzlich bin ich über einen Artikel in einer anderen deutschen Kirchenzeitung gestolpert: Die Überschrift lautete: Kreativ im Osten, streng im Westen.

Da ich inzwischen schon seit vielen Jahren im Osten lebe und außerdem bei der Kirche arbeite, fühle ich mich in dieser Frage als Expertin. Im Artikel wird behauptet, dass die katholische Kirche im Osten trotz ihrer Minderheitensituation viel weniger depressiv sei. Die Christen im Osten seien ideenreich, zupackend und nicht dogmatisch. Sie würden sich über neue Dinge freuen, seien hilfsbereit und offen. Die Kirche sei ein Zusammenschluss von Glaubenden, die je nach Bedürfnis Antworten auf ihre Fragen finden: manche wollen ihren Kindern Werte wie Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft lehren, andere wollen sich durch gute Predigten inspirieren lassen, wieder andere wollen Gemeinschaft und Geselligkeit in einem Kirchenchor oder einem Projektchor finden.
Dagegen seien die Christen im Westen rechthaberisch, verbissen und pessimistisch. Sie würden die Kirche wie einen Verein betrachten, dem man angehört und immer macht, was der Vereinsvorsitzende sagt. Auch die Pfarrer im Westen seien „strenger“: Statt den Gläubigen in moralischen Familienfragen und anderen Bereichen viel Freiheit zu lassen, meinten sie, die reine Lehre mit Appellen und Parolen durchsetzen zu müssen, was nicht gelingt. Weil viele Menschen dann im Konflikt dem persönlichen Gewissen folgen, ziehen sie aus der Kirche aus.
Die Beschreibung der Christen im Osten hat meine Fantasie angeregt – wie Christen idealerweise sein könnten: Christen als Salz in der Suppe und Sauerteig im Brot, die das Leben lebenswert und sinnvoll machen.
Christen als Menschen, die um Gottes willen für die Menschenwürde und die Menschenrechte streiten und die andere Menschen einladen, sich an diesem menschenfreundlichen Projekt zu beteiligen.
Christen als Menschen, die einen Fehler nicht verdrängen oder verheimlichen müssen, weil sie von sich selbst wissen, dass sie Fehler machen dürfen.  
Christen, die in tiefer Gottverbundenheit leben und ihr Leben aus Gottes Hand annehmen und deswegen nicht jeder Lebensmöglichkeit mit Stress und Gewalt hinterherlaufen müssen.
Damit habe ich bisher noch keine persönliche Einschätzung abgegeben, ob ich auch der Meinung bin, die Christen im Osten seien kreativer. Ich persönlich sehe keinen Grund, die einen pauschal zu tadeln und die anderen pauschal zu loben. Vielleicht liegt das daran, dass ich hier wie dort kreative und vorbildliche Christen gefunden habe?

Schwester Susanne Schneider. Missionarinnen Christi, Kontaktstelle Orientierung, Leipzig